Griechenland: SYRIZAs Dilemma und die verlogenen Reaktionen in Deutschland

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Gregor Kritidis, Patrick Schreiner, 28. Januar 2015 | Ausgrenzung, Demokratie & Recht, Wirtschaft & Finanzen

Dass die griechische Linkspartei SYRIZA einen fulminanten Wahlsieg landete, ist mehr als erfreulich. Es ist ein klares und deutliches Signal an Brüssel und Berlin, dass die griechischen WählerInnen die bisherige Austeritäts- und Kürzungspolitik nicht weiter hinzunehmen bereit sind. Dass SYRIZA nun eine Koalition mit der rechtskonservativenANEL eingegangen ist, mag unappetitlich sein. Es ist eine schlechte Lösung – aber angesichts der Umstände doch die am wenigsten schlechte von allen möglichen.

In einer ersten Bewertung durch die MacherInnen der “Griechenland entscheidet”-Facebookseite, der auf dem Mosaik-Blog erschien, wurde SYRIZAs Dilemma schon kurz nach Bekanntgabe der Koalitionsentscheidung kurz und schlüssig ausformuliert: Die Partei hat mit 149 von 300 Abgeordneten die absolute Mehrheit knapp verfehlt. Damit ist sie auf Koalitionspartner angewiesen. Keine der anderen Parteien im Parlament aber ist hierfür wirklich akzeptabel.

  1. Der vermutlich naheliegendste Partner, die kommunistische KKE, schließt seit Jahren eine Zusammenarbeit mit SYRIZA aus. Die KKE fordert zudem einen Austritt Griechenlands aus dem Euro, was SYRIZA aus guten Gründen ablehnt. Gerade in dieser zentralen Frage bestehen fundamentale politische Differenzen.
  2. Die sozialdemokratische PASOK hat sich durch die Zustimmung und aktive Umsetzung der neoliberalen Kürzungs- und Verelendungspolitik der vergangenen Jahre als Partner diskreditiert. Sie steht zudem für das alte Establishment und die alte Oligarchenkaste, die das Land in Jahrzehnten kaputtgewirtschaftet haben. Sie hat für ihre neoliberale Unterwürfigkeit gegenüber Brüssel und Berlin zu Recht die Quittung der WählerInnen erhalten.
  3. Für die konservative Nea Dimokratia gilt dies genauso (wenngleich die Quittung der WählerInnen, verglichen mit der PASOK, noch viel zu verhalten ausfiel).
  4. Dass eine Zusammenarbeit mit der neofaschistischen Goldenen Morgenröte nicht denkbar ist, versteht sich von selbst. Dies gilt umso mehr, als sie in ihrer parlamentarischen Tätigkeit fast ausschließlich die Interessen der Reeder vertreten hat und ihre Mitglieder unter anderem Leiharbeitsfirmen im Schiffssektor betreiben. Sie ist damit faktisch selbst Teil des alten Establishments. Dies zeigte sich unter anderem auch an den zahlreichen gewalttätigen Angriffen, mit denen Mitglieder der Partei immer wieder gegen Anti-Memorandums-Proteste vorgingen.
  5. Die Frage, warum die in Deutschland oft als “linksliberal” und “proeuropäisch” verniedlichte Partei To Potami (Der Fluss) nicht als Koalitionspartner für SYRIZA in Frage kommt, lässt sich einfach beantworten: Gegründet würde To Potami vonStavros Theodorakis, einem Fernsehmoderator, der unter anderem für den Privatsender MEGA-TV gearbeitet hat, der wiederum zur Unternehmensgruppe des Baumagnaten Georgios Bobolas gehört. Wer das griechische Privatfernsehen und die Korruption des Medien- und Bausektors kennt, kann diesem Aspekt wenig Positives abgewinnen. Beteiligt an der Parteigründung war auch Tasos Telloglou, der sich als investigativer Journalist (unter anderem für die Zeitung Kathimerini) seine Meriten verdient hat, aber mit seiner Forderung nach einem Notstandsstaat zur Bekämpfung der Krise dem Regime der Troika 2010 ideell den Weg bereitet hat. Telloglou hat unter anderem die Suspendierung der Verfassung, des Demonstrationsrechts, des Streikrechts sowie des Rechts auf freie Meinungsäußerung gefordert. Auch inhaltlich war und ist To Potami keine Alternative: Die Partei geriert sich als gegen das Establishment eingestellt und als unideologisch-fortschrittlich, hat aber im Wahlkampf etliche politische Zombies des Politestablishments aufgesammelt. Programmtisch ist To Potami sehr vage, vertritt aber – in Deutschland kaum wahrgenommen – neben neoliberalen durchaus auch rassistische Positionen (wie etwa die Forderung nach Quoten für MigrantInnen in Stadtteilen).

Nun also ANEL, eine rechtskonservative und rechtspopulistische Partei. Entstanden ist sie als Abspaltung der Nea Dimokratia. Im Kampf gegen die Austeritäts- und Kürzungspolitik hat sich die Partei die Forderung nach einem Schulden-Audit zu eigen gemacht. Insbesondere in gesellschafts-, außen- und migrationspolitischen Fragen vertritt ANEL allerdings reaktionäre und rassistische Positionen, die mit den Positionen SYRIZAs unvereinbar sind. Hier liegt Sprengstoff für die Koalition. Und insbesondere hier gründet die Widerlichkeit von ANEL.

“Die Entscheidung für ANEL zielt darauf ab, kurzfristig die wichtigsten Forderungen umzusetzen”, heißt es richtigerweise in der oben angesprochenen ersten Beurteilung auf dem Mosaik-Blog. “Kurzfristig” bedeutet in diesem Zusammenhang eben auch, dass sich die neue griechische Regierung in erster Linie auf die Lösung der akuten wirtschaftlichen und sozialen Krise konzentrieren wird. Denn diese ist angesichts horrender Arbeitslosenzahlen und einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um über ein Viertel das momentan mit Abstand größte Problem des Landes. Hinsichtlich der Herangehensweise an diese Krise – und damit hinsichtlich der notwendigen Konfrontation mit Brüssel und Berlin – gibt es zwischen SYRIZA und ANEL Übereinstimmungen, aber eben auch nur in diesem Punkt. Der Kampf gegen die Folgen der Austeritäts- und Kürzungspolitik und für eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell der vergangenen Jahre soll den Kitt dieser ansonsten eigentlich unmöglichen Koalition darstellen – so hoffen es jedenfalls die Spitzen beider Parteien.

Im Grunde handelt es sich um eine Koalition, die die sozialen Bewegungen gegen die Kürzungs- und Austeritätspolitik zum Ausdruck bringt und repräsentiert. 2011 war bei den Platzbesetzungen in Athen auf dem oberen Teil des Syntagma-Platzes die soziale Rechte versammelt, also ein Teil des traditionellen Anhangs der Nea Dimokratia. Dazu gehören selbständige LKW- und Taxifahrer, Besitzer von kleinen Läden und ähnliche soziale Gruppen – Berufsgruppen, die zuvor schon eigenständige Kämpfe gegen Kürzungen ausgefochten hatten. Hinzu kamen auf der anderen Seite die Massen der linken Protestierenden; ArbeitnehmerInnen, BeamtInnen, RentnerInnen, Arbeitslose, Studierende, viele davon SYRIZA nahestehend. Das ganze derzeitige mediale und politische Geschrei gegen die angebliche “unheilige Allianz in Athen” bezieht sich genau darauf: Denn keine der Memorandums-Parteien (Nea Dimokratia, PASOK) ist in der neuen Regierung vertreten, und auch keine der verzweifelten Neuschöpfungen des Establishments (To Potami sowie die neue Partei von Ex-PASOK-MinisterpräsidentGiorgos Papandreou).

Dass ANEL-Politiker immer wieder durch antisemitische und rassistische Äußerungen auffielen, ist widerlich und inakzeptabel, in Griechenland aber leider nicht unüblich. Es ist kein exklusives Kennzeichen der ANEL. Die Nea Dimokratia hat eine Zeit lang keinerlei Probleme gehabt, faktisch mit der neofaschistischen Goldenen Morgendämmerung zu kooperieren, obwohl sich diese ganz offen in die Tradition der Kollaboration und des deutschen NS-Regimes stellt und schon damit gedroht hat, Migranten zu Seife zu verarbeiten und „die Öfen zu öffen“. Der sozialdemokratische Parteichef und zeitweise Finanzminister Evangelos Venizelos hat behauptet, die ersten drei Namen der bekannten Steuerhinterzieher-Liste des Internationalen Währungsfonds (IWF) seien “jüdisch” (und er hat – nebenbei bemerkt – alles getan, um seine Parteifreunde zu decken, die auf der Liste stehen.) Dass es eine PASOK-Regierung war, die 2010 einen Grenzzaun zur Abwehr von Flüchtlingen errichten ließ, lässt auch nicht auf einen tief verwurzelten Antirassismus schließen. Genauso wenig wie die rassistischen Sprüche und Verhaftungsaktionen gegen Flüchtlinge und MigrantInnen, durch die die Nea Dimokratia immer wieder auffiel.

Das Zweckbündnis zwischen SYRIZA und ANEL ist auch keineswegs die erste Einbindung einer rechten Partei in eine griechische Regierung. Erinnert sei an die zurückliegende Regierungs-Zusammenarbeit (2011/2012) der konservativen Nea Dimokratia und der sozialdemokratischen PASOK mit der extrem rechten LAOS-Partei. Sie stieß international nicht auf Kritik, obwohl LAOS noch rassistischer war/ist als ANEL – denn die Einbindung von LAOS half damals, die neoliberale Austeritäts- und Kürzungspolitik durchzusetzen. Unter Ministerpräsident Loukas Papadimos hatte man eine technokratische Regierung zur Um- und Durchsetzung der von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF vorgegebenen “Reformen” gebildet. Dies geschah mit massiver Unterstützung europäischer PolitikerInnen (EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso, Bundeskanzlerin Angela Merkel) und unter Applaus deutscher Medien.

Wer ist/war LAOS? Deren Vorsitzender Giorgos Karatzaferis (“Europa der Völker, nicht des Völkermischmasch”) fiel durch die Äußerung auf, er sei stolz, ein wahrer Grieche zu sein, da er weder schwul noch Jude oder Kommunist sei. Proteste kamen von Linken, ansonsten aber nur von Teilen der französischen Sozialisten. Interessant ist auch die Biografie von Makis Voridis: Als Jugendlicher war er in einer gewalttätigen faschistischen Studentengruppe aktiv, später Vorsitzender der extrem rechten Kleinpartei “Griechische Front”, die sich 2005 zu Gunsten von LAOS faktisch auflöste. Voridis bezweifelte öffentlich die Authentizität des Tagebuchs Anne Franks, hält aber das von Antisemiten fabrizierte Machwerk der “Protokolle der Weisen von Zion” für einen möglichen Beweis einer jüdischen Weltverschwörung. Voridis wurde 2007 LAOS-Abgeordneter im griechischen Parlament und 2011/2012 Verkehrsminister im Kabinett Papadimos (mit der genannten Koalition aus Nea Dimokratia & PASOK & LAOS). Als LAOS die Koalition verließ, weil man die Austeritäts- und Kürzungspolitik nicht mehr mittragen wollte, trat Voridis zur Nea Dimokratia über. Er blieb als Fraktionsvorsitzender und später als Gesundheitsminister ein Regierungspartner der PASOK. Im Wahlkampf hat Voridis bekundet: “Wir lassen nicht zu, dass das Land an die Linke übergeben wird, was auch immer notwendig ist, werden wir tun. (…) Wir müssen das verteidigen, was unsere Grossväter mit der Waffe verteidigt haben.” Mit Großvätern waren zweifelsohne die NS-Kollaborateure der Besatzungszeit gemeint, die später im Bürgerkrieg die Sicherheitsbatallione bildeten, deren Terror in liberalen und linken Familien noch in Erinnerung ist.

Wer SYRIZAs Zusammenarbeit mit ANEL kritisiert, sollte sich vor diesem Hintergrund zuerst an die eigene Nase fassen: All jene bei SPD, Grünen und diversen Medien (SpOn, taz), die nun über SYRIZA herfallen, sollten sich fragen, weshalb sie über die Avancen von Nea-Dimokratia-Ministerpräsident Andonis Samaras nach Rechtsaußen und über die antisemitischen Äußerungen von Venizelos geschwiegen haben. Weshalb ihnen die Regierungskooperation von Nea Dimokratia und PASOK mit der – im Vergleich zu ANEL – noch rechteren und noch rassistischeren LAOS sowie die Zusammenarbeit mit Voridis keine Silbe des Protests wert war. Jetzt hingegen Kritik oder Häme über SYRIZA oder die Linkspartei in Deutschland auszuschütten, ist billig.

Auch von Querfronten oder von einem angeblichen Bündnis der Europafeinde von rechts und links zu schwadronieren, geht angesichts der politischen Umstände und der jüngeren Geschichte griechischer Regierungsbildung am Kern des Geschehens vorbei. Ein solches Urteil missachtet überdies die extrem verfahrene wirtschaftliche und soziale Situation, in der sich Griechenland heute befindet und die einen radikalen wirtschafts- und sozialpolitischen Politikwechsel schlicht unumgänglich macht.

Die Koalition mit ANEL ist eine hässliche Kröte, die SYRIZA schlucken muss. Denn diese Koalition ist die am wenigsten schlechte der ausschließlich schlechten Möglichkeiten, die die Partei zur Verfügung hat. Immerhin steht hinter dieser Koalition das mit Abstand vernünftigste wirtschafts- und sozialpolitische Konzept, das im zerrütteten Griechenland momentan vertreten wird. Dieses Konzept umzusetzen, ist Aufgabe dieser Regierung. SYRIZA dabei gemäß der eigenen Möglichkeiten solidarisch zu unterstützen, ist die Aufgabe der Linken in ganz Europa.

Dass diese Koalition notwendig wurde, ist nicht die Verantwortung SYRIZAs, sondern der Memorandums-Parteien und ihrer Stichwortgeber in Brüssel und Berlin.

studierte Politische Wissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie an den Universitäten Hannover und Athen und promovierte 2007 in Hannover. Seit 2000 ist er Redakteur des Internetmagazins www.sopos.org.

ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Hannover. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Finanz- und Wirtschaftspolitik, Verteilung und Politische Theorie.

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