Es sei keine Frage von individueller Schuld, sondern «System-Versagen» gewesen. Der Chef der bürgerlichen ÖVP, Vizekanzler und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner spricht ein grosses Wort so gelassen wie unbedacht aus. Mit der Floskel «System-Versagen» wollte sich Mitterlehner im ORF-Studio um eine Stellungnahme zur Mitschuld der drei mittlerweile abgetretenen Parteikollegen als Finanzminister im Bankenskandal Hypo Alpe Adria drücken. Doch System-Versagen ist nicht nur im dilettantischen Umgang mit der Kärntner Bank zu konstatieren, sondern gilt für wesentliche Bereiche der österreichischen Regierungspolitik.
Falsche Prioritäten
System-Versagen liegt nicht nur vor, weil Rahmenbedingungen und «Spielplan« nicht mehr zeitgemäss sind, sondern auch, weil zu viele der handelnden Personen im System Österreich überfordert bzw. schlicht ungeeignet sind. Das verwundert insofern nicht, als Spitzenpositionen nicht mit Bedacht auf die Interessen des Landes, sondern nach parteipolitischen Verdiensten, regionalen und Geschlechter-Quoten besetzt werden. Das hat seine Entsprechung in der Systemfrage. Österreichs Politik orientiert sich weniger am Nutzen des Gesamtsystems, sondern eher an den Interessen der Klientel bzw. der in die Regierungsparteien quasi «eingebetteten» Sozialpartner. Auf ÖVP-Seite sind das Landwirtschafts- und Wirtschaftskammer, bei der SPÖ Arbeiterkammer und Gewerkschaftsbund.
So gern «System-Versagen» als Ausrede benutzt wird, so schwer tut man sich mit Systemkritik. Laut Regierung und Sozialpartner lebt Österreich noch immer in der besten aller Welten – schwer zu sagen, ob sie es selbst noch glauben. Die Krone der argumentativen Beliebigkeit liefert Kanzler Werner Faymann. Je nach Opportunität spricht er davon, dass Österreich nicht Klassenbester werden wolle, dann wieder reklamiert er, sich nur am Besten – eben Deutschland – orientieren zu wollen. Passend dazu die tiefschürfende Diagnose, dass viele Länder gerne «unsere Sorgen» haben würden. Österreich sei eines der reichsten Länder Europas, liege bei der Kaufkraft pro Kopf an dritter und beim BIP pro Kopf an vierter Stelle in der EU. Ende der Diskussion.
Der doppelte Malus
Was Faymann nicht sagt, ist, dass Österreich ziemlich genau seit der Rückkehr der grossen Koalition an die Macht (2007) in fast allen Vergleichen von Standort und Wettbewerb kontinuierlich an Boden verliert. Nun sind solche Rankings nicht die absolute Wahrheit, aber einheitliche Tendenz und Dynamik sollten selbst notorischen Gesundbetern zu denken geben. Die strukturellen Schwächen beeinträchtigen mittlerweile das Wachstum. Kam seit den frühen 2000er Jahren keine der vierteljährlichen Konjunkturprognosen ohne den Hinweis aus, dass Österreich rascher wachse als die Euro-Zone, so wird Österreich sowohl 2014 als auch 2015 hinter dem Euro-Raum zurückbleiben.
Mehr noch, die Wirtschaftsforscher diagnostizieren zum Jahreswechsel sogar einen doppelten Malus. Österreichs Inflationsrate wird nämlich 2014 und 2015 unrühmliche EU-Spitze sein. Zwei Drittel davon sind vom Staat gemacht (Gebühren, Tarife, Steuern). Eigentlich ist es ja sogar ein dreifacher Malus. Während nämlich in vielen EU-Staaten die Arbeitslosigkeit sinkt, wird sie in Österreich zumindest bis 2016 steigen. Viele Jahre sonnte man sich im Glanz der niedrigsten Arbeitslosigkeit in der EU, jetzt hat Deutschland die Nase vorn.
Dabei hilft Österreich seit Jahren der Statistik nach. So wurde der äusserst niedrige Anteil der Beschäftigung von Personen ab 55 Jahren erst durch den politisch begünstigten Run in die Frühpension möglich. Als im Oktober die Zahl der Langzeitarbeitslosen um 111% hinaufschnellte, musste Sozialminister Rudolf Hundstorfer im ORF-Studio einräumen, dass kein Geld mehr zur Verfügung stehe, um Arbeitslose nur deshalb in sinnlose Kurse zu schicken, damit diese in der Statistik nicht als Langzeitarbeitslose erscheinen würden. Der verantwortungsvolle Umgang mit Steuergeld sieht anders aus.
Braindrain und «Mismatch»
Das gravierendste Problem des Arbeitsmarktes ist aber das immer stärkere Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage («Mismatch»). So steigt trotz wachsender Beschäftigung die Zahl der Arbeitslosen, wobei einem verfestigten Sockel an wenig bzw. unqualifizierten Arbeitslosen ein immer grösserer Mangel an Facharbeitern gegenübersteht. Dazu kommt die verheerende Migrationsbilanz. Während Facharbeiter einen Bogen um das Land machen, gilt Österreich bei ungelernten Arbeitskräften als erste Adresse. Schlimmer noch ist der Braindrain vor allem von Uni-Absolventen. Selbst von den ausländischen Studenten in Österreich bleiben nach Abschluss nur 17% im Land. Begründet wird diese Fluchtbewegung aus Österreich mit fehlender Finanzierung, geringen Karrierechancen sowie unzureichenden rechtlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen.
Da passt gut ins Bild, dass die Forschung-und-Entwicklungs-Quote seit 2008 bei 2,8% des Bruttoinlandprodukts (BIP) stagniert, das für 2020 gesteckte Ziel von 3,76% des BIP ausser Reichweite ist. Ähnliches gilt für die Bildung. Der Wohlfahrtsstaat frisst die Zukunft seiner Kinder. Kehrseite der Medaille sind EU-weite Spitzenwerte bei Staats- und Steuerquote. Besonders deutlich ist das beim «Steuerkeil» – fast nirgendwo in der EU ist der Anteil von Steuern und Abgaben am Einkommen so gross. Darunter leidet die für das noch gute Standing Österreichs hauptverantwortliche Exportwirtschaft. Die zu grosse Dynamik der Arbeitskosten, die hausgemachte Inflation, zu geringe Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und der Wust an Regelungen machen Marktanteilsverluste bei den Haupthandelspartnern verständlich.
Währungsfonds relativiert
Zwar produziert die Industrie wieder mehr als vor Ausbruch der Krise, doch wie relativ eine im innereuropäischen Vergleich überdurchschnittliche Arbeitsproduktivität sein kann, legt der Internationale Währungsfonds (IMF) bloss. Demnach ist Österreichs Arbeitsproduktivität um rund 20% geringer als jene der USA. Österreich kann aufgrund zu geringer Arbeits- und auch Kapitalproduktivität sein Wachstumspotenzial nicht voll ausschöpfen. Dabei ist es noch gar nicht so lange her (Mitte der 2000er Jahre), dass Österreich als «das bessere Deutschland» galt. Trotz der in Österreich schlechten Nachrede für die Mitte-Rechts-Koalition Wolfgang Schüssels zeigte diese im Gegensatz zu der den Stillstand bloss verwaltenden grossen Koalition einen (gelegentlich ungestümen) Gestaltungswillen.
Genannt seien hier die von der grossen Koalition sofort konterkarierte Pensionsreform, Entstaatlichung, Gruppenbesteuerung und Reform der Unternehmensbesteuerung. Der grösste Fehler Schüssels war es wohl, dass es ihm 2003 nicht gelang, statt des implodierenden Rechtspopulisten Jörg Haider (FPÖ bzw. BZÖ) die Grünen in die Regierung zu holen. Mit Wiederaufnahme der grossen Koalition, allerspätestens mit der Übernahme der Kanzlerschaft von Faymann Ende 2008, war es mit dem Gestaltungswillen vorbei. Seither werden nur noch Besitzstände gewahrt, ist alles dem Machterhalt untergeordnet.
Erfolgsmodell Nische
Dass Österreich trotzdem noch immer ganz gut dasteht, hat es vor allem der erfolgreichen Exportwirtschaft zu verdanken. Je nach Zählweise bis zu 150 Weltmarktführer in Nischen zeigen die Richtung an, sind aber auch Beleg dafür, dass das Land nicht nur «Meister der mittleren Technologie» ist. So ist Österreichs Industrie in der Automobil-, Flugzeug- und Eisenbahn-Produktion bloss in Randbereichen tätig, dafür als Zulieferer umso erfolgreicher. Dass im EU-Vergleich der Anteil der Industriegüterproduktion mit 18,2% des BIP relativ stabil gehalten werden konnte, rührt auch daher, dass sich österreichische Unternehmen besonders stark die internationale Arbeitsteilung zunutze machen. Und damit viele sonst nicht haltbare Standorte sichern.
Laut dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche ist der Auslandsanteil an den österreichischen Exporten vorrangig dank innereuropäischer Vernetzung (Reformstaaten) von 28% 1995 auf 41% 2011 gestiegen. Das kommt auch dem Aufholprozess in Sachen höherer Technologie zugute, hat sich doch der Anteil Technologie-intensiver Produkte an der Sachgüterproduktion von 35% auf 45% erhöht. Besonders eindrucksvoll ist der Wandel in den Bereichen Nahrungsmittel und Holz. Aus Wertschöpfungs-schwachen Exporteuren von Rohstoffen wurden hochwertige Verarbeitungsbereiche. Die Nahrungsmittelindustrie ist mittlerweile die Industrie mit dem höchsten Österreich-Anteil am Exportwert.
Doch immer lauter klagen Gesprächspartner aus führenden Industriefirmen über hausgemachten Gegenwind. Am heftigsten kritisiert wird die fehlende Planungssicherheit – Folge einer nur reagierenden Regierung. Oft genannt wird der Facharbeitermangel, ebenso oft wird über die geringe Flexibilität bei Arbeitszeiten geklagt und die Unmöglichkeit, Spitzen bei Auftragseingängen einigermassen kostenneutral zu bewältigen (u. a. wegen der Einschränkungen bei Zeitarbeit). Dauerthemen bleiben die trotz Fortschritten noch immer überbordende Bürokratie und wettbewerbsverzerrende Umweltauflagen. Sorgen bereitet auch die nicht allein wegen der Hypo auf 85% des BIP gestiegene Staatsschuld.
Selbstbedienungsladen
All das ist seit Jahren bekannt. Forderungen nach überfälligen Reformen von Verwaltung, Föderalismus oder Pensionen liegen samt Lösungskonzepten auf dem Tisch. Doch die Regierungsparteien, die gemeinsam gerade noch 51% der Wähler vertreten, sind vor allem damit beschäftigt, Einflussbereiche und Besitzstände ihrer Klientel durch Reformverweigerung zu sichern. Weltmeister sind Österreichs Parteien nur bei den sich selbst zugestandenen staatlichen Förderungen – von zuletzt 205 Mio. € (2014). Was die Untersuchungskommission zur Aufarbeitung des Hypo-Desasters der Bundesregierung vorwirft, kann sinngemäss auf Parteien und die sich über verfassungsrechtlich abgesicherte «Schutzgeld-Systeme» finanzierenden Kammern übertragen werden: «Dem Bund kann nicht zugebilligt werden, dass er seine Entscheidungen zum Wohle der Bank und der Allgemeinheit getroffen hat.»
Nun sind politischer Filz und institutionelle Intransparenz keine rein österreichischen Phänomene. Allerdings wurden diese in Österreich geradezu perfektioniert. Treffend hat es der auf internationales Steuerrecht spezialisierte Steuerberater und Systemkritiker Gottfried Schellmann formuliert: «Politik wird in Österreich von System-Arbitrageuren für System-Arbitrageure gemacht.» Deshalb ist die Gefahr gross, dass die Lösung eines der grossen Problemfelder durch diese Koalition nicht über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausgeht und damit mehr Schaden anrichtet als Nutzen stiftet.
Dies gilt besonders für die zur Koalitionsfrage hochstilisierte Steuerreform. So ist zu befürchten, dass von der angekündigten Systemreform bloss eine (wiewohl überfällige) Steuerentlastung mit marginalen Kürzungen bei Ausgaben, dafür aber neuen bzw. höheren Steuern bleibt. Bei einer Steuer- und Abgabenquote von 45,2% des BIP (inkl. Arbeitgeberabgaben zur Sozialversicherung) muss das Diktum von Finanzminister Hans Jörg Schelling gelten, dass Österreich ein Ausgaben-, aber kein Einnahmen-Problem habe. Statt populistisch um die maximale Höhe der Steuerentlastung zu streiten, sollten zunächst die 550 Steuerbegünstigungen und die nach dem Giesskannensystem wild wuchernden Förderungen durchforstet sowie Verwaltung und Föderalismus reformiert werden.
Befreiungsschlag
Noch ist Österreichs Wirtschaft stark genug, um sich trotz teilweise wettbewerbshinderlichen Rahmenbedingungen zu behaupten. Doch ohne grundlegende Erneuerung des politischen Systems ist diese erreichte Position mittelfristig nicht zu halten. Österreich braucht einen personellen, moralischen und institutionellen Befreiungsschlag in Richtung einer von System-Arbitrageuren befreiten Form von Dritter Republik. Das Leugnen jedweder Mitschuld der Regierungsparteien am 15 bis 20 Mrd. € teuren Hypo-Desaster sollte Anlass genug für einen solchen «Big Bang» sein.
Unabhängiger Journalismus im besten Sinne
pfi. ⋅ Mit seiner Analyse der Gefährdung von Österreichs wirtschaftlichem Erfolg durch ein gelähmtes politisches System verabschiedet sich unser langjähriger Österreich-Wirtschaftskorrespondent Matthäus Kattinger (M. K.) nach Erreichen des regulären Pensionsalters in den Unruhestand. Kattinger fand schon 1974 beim ORF-Radio zum Journalismus, wirkte als Chefredaktor des «Börsenkuriers» und leitete danach die Wirtschaftsredaktion der «Wochenpresse». 1986 machte er sich selbständig, um unter anderem für das deutsche «Handelsblatt» zu berichten, den wöchentlichen «Erdöldienst» im Alleingang zu verantworten und das monatliche Wirtschaftsmagazin «Option» herauszugeben. Dass es 2002 gelang, ihn für die NZZ zu verpflichten, hat sich als ausgesprochener Glücksfall erwiesen. Kattinger verfiel nie den Verlockungen eines unkritischen oder zynischen «Mainstreams», sondern berichtete und analysierte unablässig mit dem unbestechlich-scharfen Blick des ökonomisch versierten NZZ-Journalisten. Eine gesunde Portion liberales Feuer liess ihn den unter Österreichern oft unkritisch hingenommenen Korporatismus scharf anprangern und machte das Kürzel M. K. zu einem eigentlichen Markenzeichen. Die Redaktion wünscht ihrem Kollegen alles Gute und freut sich über dessen Versprechen, für unser neues digitales Produkt «nzz.at» und die NZZ weiter regelmässig Analysen zu verfassen.
NZZ, 1.1.2015